Vibecoding in der Praxis: Chancen, Grenzen und harte Realität
Vibecoding verspricht Programmieren im Flow: Ideen formulieren, KI erledigt den Code. Doch zwischen Demo-Euphorie und echter Projektarbeit liegen große Unterschiede. Dieser Erfahrungsbericht zeigt meine persönliche Reise mit Vibecoding – von ersten Aha-Momenten über technische Durchbrüche bis zu harten Limit-Realitäten.
Wer heute mit KI entwickelt, merkt sehr schnell: Vibecoding ist kein Hypewort, sondern ein echter Bruch mit der klassischen Programmierung. Gleichzeitig zeigt der Alltag: Zwischen Demo-Magie und produktiver Realität liegen ein paar sehr harte Grenzen – technisch, konzeptionell und finanziell.
In diesem Artikel erzähle ich aus meiner Perspektive, wie sich Vibecoding anfühlt, wenn man es nicht nur in Tweets feiert, sondern in echten Projekten ausprobiert: Was funktioniert brillant, wo bricht es, und wo lauert ganz leise das Geschäftsmodell dahinter?
1. Was Vibecoding eigentlich ist – jenseits der Schlagworte
Vibecoding bedeutet für mich: Ich tippe nicht mehr jede Codezeile selbst, sondern formuliere in natürlicher Sprache, was ich von meiner Software will – und eine KI erzeugt oder verändert den Code.
Die Rolle verschiebt sich deutlich:
- Früher: Entwickler als Autor jeder if-Schleife und Klammer.
- Heute: Entwickler als Architekt, Reviewer, Tester und Qualitätsfilter.
In der Theorie klingt das nach „Programmieren in Englisch oder Deutsch“. In der Praxis ist es eher: Ich beschreibe Intention, Architektur und Änderungen – und die KI übernimmt das Handwerk. Ob das funktioniert, hängt aber stark vom Setup ab.
2. Phase 1 – Erste Versuche mit ChatGPT im Browser
Mein Einstieg war der typische: ChatGPT im Browser, Code-Snippets per Copy&Paste, ein eigenes kleines Projekt, in dem ich die jeweils aktuellen Versionen der Skripte sauber abgelegt hatte.
Die ersten Minuten wirken beeindruckend: Funktionen entstehen, HTML und PHP fließen nur so aus dem Modell, und man denkt: „Okay, das ist jetzt wirklich die Zukunft.“
Dann kommt der Realitätstest:
- Das Modell vergisst regelmäßig, was es schon gebaut hat.
- Neue Funktionen überschreiben still alte Elemente und Ausgaben.
- Platzhalter wie „Hier werden dann die Listenelemente stehen“ tauchen plötzlich wieder auf – mitten im eigentlich fertigen Code.
- Der Kontext bricht ab, sobald die Historie zu lang wird oder man ein paar Iterationen später ist.
Ich hatte zwar lokal alle aktuellen Dateien liegen, aber ChatGPT hatte kein echtes Projektgedächtnis. Jeder größere Entwicklungsschritt fühlte sich an wie: „Wir fangen zur Sicherheit noch einmal von vorne an.“
Fazit dieser Phase: Als Spielwiese und Ideengeber ok – für ernsthafte, weiterentwickelte Projekte unzuverlässig.
3. Phase 2 – PHPStorm & JetBrains AI: Das erste echte Vibecoding-Gefühl
Der nächste Schritt war konsequent: Wenn Browser-Chat zu instabil ist, dann eben Integration direkt in die IDE. Also: PHPStorm auf, JetBrains AI Assistant gebucht, Claude als Modell ausgewählt.
Und hier kam der erste echte „So soll sich Vibecoding anfühlen“-Moment:
- Der Assistent versteht das Projekt als Ganzes.
- Er nimmt gezielt Änderungen am bestehenden Code vor statt alles neu zu schreiben.
- Die ersten Änderungen an einem bestehenden PHP-Projekt waren vollständig brauchbar und fehlerfrei.
- Boilerplate, kleinere Refactorings, CSS-Anpassungen – alles wirkte erstaunlich souverän.
Genau so soll Vibecoding laufen: Ich beschreibe eine Änderung, die KI erledigt sie sauber im Kontext meines Projekts.
Dann kam die andere Seite – die ökonomische. Ich hatte testweise ein 10-Dollar-Paket gebucht. Laut Oberfläche hat man „10 Credits“, aber:
- Wieviel ein Credit in Tokens ist? Nicht ersichtlich.
- Wo ich meinen aktuellen Verbrauch sehen kann? Nicht wirklich transparent.
Nach einem Abend mit eher moderatem Einsatz erschien die Meldung:
„Du hast 85 % Deiner Credits verbraucht.“
Keine saubere Verbrauchsanzeige, keine Vorwarnung, keine Kalkulationsbasis. Plötzlich wird klar: Technisch funktioniert Vibecoding großartig – ökonomisch wanderst du in eine Blackbox.
Oder anders formuliert: Die KI nimmt dir Arbeit ab, aber dein Flow ist jetzt eine Abrechnungseinheit.
4. Phase 3 – Claude Terminal: Volle Power, volle Limits
Nächster Versuch:
Direkt zu Claude Pro, Terminal-App, rund 11 Euro im Monat.
Wieder in Kombination mit PHPStorm, aber diesmal mit deutlich mehr Freiraum.
Der erste Eindruck:
- Größere Arbeitsschritte ohne ständige Limitpanik.
- HTML, CSS und JavaScript werden souverän beherrscht.
- Das erste kleine Browser-Game stand nach rund 15 Minuten.
Dann kam der echte Stresstest: Ich wollte wissen, wie weit Vibecoding wirklich gehen kann und habe Claude gebeten, mir ein „Command & Conquer“ im Browser zu programmieren.
Ergebnis:
- Claude arbeitete etwa 10 Minuten am Stück autonom am Grundgerüst.
- Nach einigen Korrekturen stand eine erkennbare Spiel-Logik.
- Basisaufbau, Einheitenlogik, Ressourcen – noch ohne richtige Sprite-Grafiken, aber klar strukturiert.
Nach rund 60 Minuten intensiver Vibecoding-Arbeit kam dann die Meldung: „Du hast Dein aktuelles Limit für den Pro-Plan erreicht. Warte 5 Stunden oder upgrade auf Max.“
Technisch beeindruckend, aber: Auch hier ist der Vibe an harte Limits gekoppelt.
5. Was Vibecoding heute wirklich kann
Wenn man die Marketingfolie beiseite lässt, bleibt eine klare Feststellung: Vibecoding funktioniert – und zwar beeindruckend gut.
Typische Stärken:
- Schnelles Erzeugen von Web-Apps, APIs, Games und Tools.
- Automatisierung von Boilerplate und wiederkehrenden Strukturen.
- Refactorings, Umstrukturierungen und Umbenennungen im größeren Stil.
- Generierung von Tests, Dokumentation und Hilfscode.
Richtig eingesetzt ist Vibecoding ein massiver Produktivitätshebel – nicht nur für Junior-Entwickler, sondern gerade auch für erfahrene Entwickler, die ihre Zeit lieber in Architektur und Qualität investieren wollen.
6. Die Schattenseite: Kosten, Limits und Abhängigkeit
Die Kehrseite ist schwer zu übersehen: Vibecoding ist aktuell keine neutrale Basistechnologie, sondern ein stark ökonomisiertes Produkt.
- Token- und Credit-Modelle sind oft intransparent.
- Limits greifen genau dann, wenn man im Flow ist.
- Die natürliche Folge: Upgrade-Hinweise und Tarifdruck.
Hinzu kommt die technische Abhängigkeit:
- Fällt der Dienst aus, stockt dein Workflow.
- Ändert sich die API oder die Preisstruktur, musst du mitgehen.
- Lokale Alternativen gibt es, aber sie erfordern Hardware, Setup und Wartung.
Realistisch betrachtet: Vibecoding skaliert aktuell nicht mit deiner Kreativität – es skaliert mit deiner Zahlungsbereitschaft.
7. Wo Vibecoding heute glänzt – und wo es gefährlich wird
Schaut man nüchtern auf die Einsatzgebiete, ergibt sich ein recht klares Bild.
7.1 Perfekte Einsatzfelder
- Prototypen und Proof-of-Concepts.
- Interne Tools und Einmal-Lösungen.
- Lernprojekte, Experimente, „Was geht, wenn ich mal spinne?“-Sessions.
- Beschleunigung von Frontend-Iterationen und UI-Feinanpassungen.
Hier spielt Vibecoding seine Stärken voll aus: Was früher Tage dauerte, steht heute oft nach wenigen Stunden.
7.2 Kritische Bereiche
- Langfristig wartbare Enterprise-Systeme.
- Sicherheitskritische Anwendungen.
- Große Teams ohne klare Architektur- und Code-Governance.
Hier drohen:
- Inkonsistente Code-Stile und Strukturen.
- Technische Schuld, die sich kaum noch sauber aufräumen lässt.
- Teams, die einen Codebestand betreiben, den niemand wirklich versteht.
Vibecoding multipliziert Geschwindigkeit – in beide Richtungen: Man kann sehr schnell sehr gute Systeme bauen, aber ebenso schnell sehr schwer wartbare.
8. Die größte Illusion: „Man muss nicht mehr programmieren können“
Einer der problematischsten Sätze im Umfeld von Vibecoding lautet: „Man muss heute nicht mehr programmieren können.“
Das klingt bequem – ist aber gefährlich falsch.
Gute Vibecoder brauchen:
- Architekturverständnis und Systemdenken.
- Fundamentales Wissen über Datenstrukturen, APIs und Laufzeitumgebungen.
- Debug-Kompetenz – gerade dann, wenn die KI Unsinn baut.
- Urteilsvermögen: Was ist sauber, was ist kurzfristiger Hack?
Wer nur promptet, ohne zu verstehen, was passiert, landet irgendwann vor einem Codeberg, der zwar irgendwie funktioniert, aber bei der ersten größeren Änderung komplett auseinanderfällt.
Vibecoding ersetzt das Denken nicht. Es verschiebt es eine Ebene nach oben – von der Zeile zur Struktur.
9. Fazit: Zwischen Begeisterung und bewusstem Einsatz
Nach meinen bisherigen Erfahrungen würde ich Vibecoding so zusammenfassen:
- Technisch: beeindruckend, produktiv, real.
- Ökonomisch: limitiert, gesteuert, alles andere als neutral.
- Konzeptionell: ein echter Rollenwechsel für Entwickler.
Die spannende Frage ist nicht mehr, ob Vibecoding kommt – sondern wie bewusst wir es einsetzen.
Erfolgreiches Vibecoding heißt: Die Stärken der KI – Geschwindigkeit, Automatisierung, Kreativität – klar zu nutzen, ohne die eigenen Stärken – Urteilskraft, Architekturdenken, Qualitätsbewusstsein – abzugeben.
Oder zugespitzt: Wir schreiben vielleicht weniger Code – aber wir tragen mehr Verantwortung als je zuvor.